Warum eine neue Übertragung

In mehr als zwanzig Ausgaben ist derzeit das Buch Daodejing (Tao Te King) von Laozi (Lao Tse) im deutschen Buchhandel erhältlich. Nicht mitgezählt jene Übersetzungen, die inzwischen vom Markt genommen wurden oder nie erschienen sind. Und dennoch wird es kein zweites Buch geben, von dem hier zu Lande weniger verstanden wird. Vermutlich liegt in seiner rätselhaften Vieldeutigkeit sein Reiz und für die meisten Leser letztlich auch seine Unverbindlichkeit.
Leider ist ein Original nicht erhalten. Doch nur wegen seines nicht Vorhandenseins kann man seine ursprüngliche Existenz nicht unbedingt anzweifeln. Bis zum Jahr 1973 stammte die älteste bekannte Niederschrift von dem Gelehrten Wang Bi, der im dritten nachchristlichen Jahrhundert den Text mit eigenen Kommentaren versah. Dann wurde in Mawangdui, Provinz Hunan, im Grab eines Adligen, der 168 v. Chr. gestorben war, unter den Beigaben auf Seide geschriebene Texte gefunden. Zwei davon wurden als Niederschriften des Daodejing identifiziert. Die ältere, noch in der Siegelschrift abgefasste, wird auf das letzte Jahrzehnt des 3 Jh. v.Chr., die zweite, in Kanzleischrift, auf das beginnende 2 Jh. v.Chr. datiert. Da sie lange vor dem Tod des Adligen verfasst wurden, widerspricht dies der Auffassung, sie seien extra als Grabbeigaben hergestellt worden, ansonsten habe man den Text zu jener Zeit nur mündlich überliefert. Noch um mindesten ein Jahrhundert älter sind die erst vor wenigen Jahren in einem Grab bei Guodian gefundenen Bambustafeln, die ca. ein Fünftel des überlieferten Textes enthalten. Ebenfalls aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. sind die fragmentarischen Bemerkungen zu Textstellen des Daodejing im Buch des Legalisten Han Fei. "Keine andere weithin bekannte daoistische Schrift kann mit Sicherheit auf ein so frühes Datum zurück verfolgt werden. Und insofern kann man tatsächlich sagen, dass die Geschichte des Daoismus mit Laozi beginnt."1

Am 12 Juni 1985 verstarb Gia Fu Feng, einer der wenigen authentischen daoistischen Meister, der Osten mit Westen in sich vereinte. Ungefähr die Hälfte seines Lebens hatte er in den Vereinigten Staaten verbracht, als Broker und Beatnik, Schamane und Schattenboxer, Prediger und Praktiker. Gia Fu Feng lebte, was er lehrte. Er hat keine eigenen Texte hinterlassen. Zeit seines Lebens beschäftigte er sich mit den klassischen Texten seiner Heimat. Hinterlassen bleiben uns seine Übersetzungen von Zhuangzi, Laozi, und das Yi Jing. In Richards Bertschingers Besitz befindet sich das Manuskript zum Huang Di Nei Jing und mir blieb eine Kladde mit vielen durchgestrichenen Wörtern und schrägen Formulierungen.
Wir hatten 1982 in Stillpoint, der Einsiedelei in den Rocky Mountains, eines Tages damit begonnen, jeden Morgen einen Vers des Dao De Jing neu zu übertragen. Wir hockten um Gia Fu, der versuchte, Zeichen für Zeichen in ein sprechbares Englisch zu bringen. Wir nahmen alle teil an seinem Ringen und verstanden oft die Vieldeutigkeit und manchmal Nichts. Voll frischer Eindrücke begaben sich anschließend Franz Möckel und ich daran, die englische Version in ein adäquates Deutsch zu bringen. Nach meiner Abreise übernahm Tillmann Gäbler meinen Part. Letzlich gab es doch nur gemäßigte Abweichungen von der schon vorliegenden Ausgabe des Irisiana Verlags. Eine Neuauflage als Taschenbuch wurde aus Sorge um Urheberrechte verworfen.
Fast 20 Jahre habe ich mit dem Text gelebt, gelesen und gelitten. Neben der Stillpoint-Version habe ich stets einige andere Ausgaben vergleichend daneben gehabt. Es gibt schaurig schwülstige Ausführungen wie z.b. Günther Debons Reklamheft von 1961 ("o Glosen, o Brauen") bemüht um Versmaß und tiefen o abgründigen Sinn. Und brave Kalenderspruch-Definitionen für das christliche Heim. Sicher gibt es auch gut Lesbares und Sinngebendes. Warum also ein neuer Versuch?

Bei Erich Stiefvater fand ich das 6. Kapitel zitiert nach der Übersetzung von De Groot, die nichts mit dem zu tun hatte, was ich bisher gelesen hatte: „Was die Seele (Shen) so nährt, dass man nicht stirbt, das ist das Schwarze (das Himmlische, also das Yang) und das Weibliche (das Yin). Die Pforte für das Schwarze und das Weibliche (die Nase), das ist die Wurzel des Himmlischen und des Irdischen (im Menschen). In langen, langen Zügen (soll man atmen), als ob man den Atem bewahren wolle, und beim Gebrauch des Atems soll man sich nicht bewegen.“
Abgesehen davon, dass das Schwarze Yang sei, ist in den Zeilen noch mehr Überraschendes zu lesen. Inzwischen hatte ich etwas Chinesisch gelernt und vor allem, ein Wörterbuch zu handhaben. So machte ich mich mühsam daran, die Zeichen des 6. Kapitels zu finden und zu interpretieren.
Schon die erste Zeile, für gewöhnlich angelehnt an Wilhelm mit: „Der Geist des Tales stirbt nie“ oder ähnlich übersetzt, bot die Möglichkeit, davon zu reden, der ungeschälte Reis führe zu langem Leben. Laozi als Begründer der Makrobiotik? Dem Leser zum Verständnis, die erste Zeile besteht aus vier Zeichen:

谷 神 不 死
gu shen bu si
gu= 1) Tal, Schlucht, Senke; 2) Getreide; 3) Hirse; 4) ungeschälter Reis
shen = 1) Gottheit; 2) übernatürlich; 3) Geist, Seele, Energie,
bu = nicht
si = sterben, starr, steif

Hier wurde nun mein Ehrgeiz angespornt, mich wieder erneut und nun intensiv mit dem alten Text zu beschäftigen. Das war, so weit ich mich erinnern kann, im Jahr 2000.
Je mehr ich mich auf die Zeilen einließ, desto weniger verstand ich bisherige Interpretationen. Ich dachte an Kommentare, wenn mir nichts anderes gelingen wollte als eine Deutung, mit der eine andere aber verloren geht. Andererseits möchte ich keine wissenschaftliche Arbeit abliefern, ich bin doch kein Sinologe. Schon bald war nichts mehr mit einem Vers pro Morgen. Manche Zeilen ziehen sich durch einen ganzen Tag.

Zuweilen spielt Laozi mit der Sprache, mit der Schrift. Es gibt gleich Klingendes verschieden geschrieben mit verschiedenem Sinn. Es gibt gleich Geschriebenes mit verschiedenem Sinn. Das Dao De Jing lässt sich nicht eindeutig übersetzen. Wenn es aber keine Eindeutigkeit geben kann, warum dann versuchen, klare Worte zu findenß Warum dann nicht der Vorlage folgend lyrisch sein?

Wenn wir Gedichte lesen, so wollen wir nicht unbedingt die Wahrheit in den Worten finden. Gedichte benutzen Worte, um hinter die Wahrheiten zu verweisen, sie schaffen ein neues, unserer Wirklichkeit überlegenes Universum, einen Gegenkosmos, oder in Gias Fus Worten: Multiversen. Ein Vers gebiert eine unendliche Zahl von Versen, die ungeschrieben "ohne Worte lehren". Keine Version ist von dauerhafter Gültigkeit. Auftauchen und wieder versinken, in stetigem Wandel.

Als wenn nicht die deutsche Sprache, ständig um Klarheit bemüht, mehrdeutig sein könnte. Wo wir im Alltag um des Verstehens willen in Disputen palavern, lächelt der Chinese ob des Unverstands und plaudert in anderer Richtung weiter. Warum müssen wir so genau sein im Denken und Sprechen des Deutschen? Weil gegenwärts die Sprache doch die Deutung zulässt, oder herausfordert, ins Leben befördert.

Laozis Buch vom Weg und Wandel verspricht uns nichts, ausser ständiger Unbeständigkeit. Die Worte verhüllen den Sinn, aber sie verbergen ihn nicht. Ein Geschenk wird in der Verpackung präsentiert.
Interpunktion lasse ich weg, die gibt es im Original nicht und so bleiben Bezüge offener. Durch den Verzicht auf Großschreibung werden Asoziationen gefördert. Gepriesen ob der Knappheit seines Textes (ca. 5000 zeichen) mache auch ich möglichst wenig Worte.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen